Offener Brief: Parlamentarier aus der gesamten EU fordern alle verhandelnden Regierungen im EU-Rat auf, den Chatcontrol-Vorschlag abzulehnen.

18.06.24 –

Offener Brief, Tobias B. Bacherle, MdB

Sehr geehrter Rat der Europäischen Union, sehr geehrte nationale Regierungen,

In den letzten Tagen der belgischen EU-Ratspräsidentschaft hat Belgien seine endgültige Initiative vorgelegt, um im Rat der EU einen allgemeinen Ansatz zur stark umstrittenen CSA-Verordnung (Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Regeln zur Verhinderung und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern) zu erreichen. Indem der Rat möglicherweise am 19. Juni über die CSA-Verordnung abstimmt, riskiert er weit mehr als nur die Verabschiedung einer einfachen Verordnung.

Sexueller Missbrauch und die Ausbeutung von Kindern, einschließlich der Verbreitung von kinderpornografischem Material, müssen mit größter Entschlossenheit und im Einklang mit dem Rechtsstaat angegangen werden. Obwohl der von der EU-Kommission vorgelegte Verordnungsvorschlag einige gute und wichtige Maßnahmen, wie das EU-Zentrum, enthält, ist es höchst fraglich, ob zentrale Aspekte der Verordnung mit den europäischen Grundrechten vereinbar sind.

Als Parlamentarier beobachten wir mit großer Sorge den Vorschlag des Rates der EU, der das Ende der Vertraulichkeit privater Kommunikation bedeuten würde. Selbst wenn die belgische Ratspräsidentschaft nun einen Kompromissvorschlag vorgelegt hat, der die Verpflichtung zum Scannen privater unverschlüsselter sowie verschlüsselter Video- und Bildinhalte einschränken würde, bleibt es dennoch ein ebenso großer Eingriff in die fundamentalen digitalen Rechte und bringt die Diskussion zurück zum Ursprung der Debatte. Tatsächlich stellt der belgische Vorschlag die ersten Pläne der Kommission dar, die im Dezember 2021 bekannt wurden.

Sichere und verschlüsselte Kommunikation ist von größter Bedeutung für jeden Menschen. Dies gilt auch für Kinder und Opfer sexuellen Missbrauchs, um sichere Notfall- und Hilfsdienste zu ermöglichen – insbesondere in Ländern, in denen Opferhilfeorganisationen nicht auf die Unterstützung und Vertraulichkeit staatlicher Strafverfolgungsbehörden vertrauen können.

Neben dem Risiko, das Ziel des CSA-Vorschlags durch Eingriffe in die digitale Selbstbestimmung der Menschen zu konterkarieren, könnten mehrere unbeabsichtigte, aber gefährliche Nebenwirkungen auftreten:

  1. Client Side Scanning (CSS) und jede andere Form der Massenüberwachung würden vertrauliche Informationsübermittler unmöglich machen: Das Scannen würde Benutzer betreffen, die auf vertrauliche Kommunikation angewiesen sind und deren Kommunikation besonders geschützt ist (Berufstätige mit Schweigepflicht wie Journalisten, Anwälte, der medizinische Sektor, aber auch Whistleblower). Darüber hinaus könnten eingebaute Hintertüren die Vertraulichkeit von digital übermittelten Geschäftsgeheimnissen und Geschäftstransaktionen gefährden. Verschlüsselung schützt die Identität und den Inhalt der Kommunikationsteilnehmer und erhält so die Autonomie von Opfern sexueller Gewalt.

  2. Demokratische Gesellschaft und demokratische Debatte benötigen vertrauenswürdige Räume: Demokratische Gesellschaften brauchen Privatsphäre für die Meinungs- und Willensbildung. Die vorgeschlagenen Maßnahmen bergen die Gefahr, zur Selbstzensur zu führen und sichere Räume für Kinder und Opfer sexueller Gewalt, aber auch für alle anderen, zu gefährden. Es wird wahrscheinlich auch dazu führen, dass Benutzer digitale Dienste nicht mehr nutzen wollen und das Vertrauen in Anbieter verlieren, wenn ihre Daten nicht sicher und geschützt sind.

  3. Blaupause für autoritäre Staaten und Schwächung der Cybersicherheit: Durch den Aufbau einer Architektur, die alle Möglichkeiten privater digitaler Kommunikation untergräbt, könnte die Verordnung unbeabsichtigt als Blaupause für Überwachung in autoritären Staaten dienen und als eingebaute Hintertür leicht für alle möglichen Überwachungspraktiken (z.B. Geschäftsgeheimnisse) und Cyberkriminelle ausgenutzt werden. Einmal aufgebaut, ist diese IT-Architektur eine Einladung, die Privatsphäre zu untergraben.

  4. Beeinträchtigung digitaler Bildungs-, Jugend- und Hilfsdienste: Sie wird die gängige Praxis beseitigen, wichtige Informationen zur sexuellen Gesundheit auszutauschen, wie es in einigen europäischen Ländern der Fall ist.

Die verpflichtende Untersuchung privater Kommunikationsnachrichten ohne Verdacht birgt das Risiko, ein Klima des allgemeinen Misstrauens zu schaffen. Ein solcher Ansatz wird das Bild der Europäischen Union als Garant für Freiheit unwiederbringlich beschädigen.

Wir warnen ausdrücklich davor, dass die Verpflichtung zum systematischen Scannen verschlüsselter Kommunikation, ob "Upload-Moderation" oder "Client-Side-Scanning" genannt, nicht nur die sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung brechen würde, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht standhalten wird. Vielmehr würde ein solcher Angriff in völligem Gegensatz zum europäischen Engagement für sichere Kommunikation und digitale Privatsphäre sowie zu den Menschenrechten im digitalen Raum stehen.

Wir brauchen daher dringend einen Ansatz, der den Schutz und die Prävention von Kindesmissbrauch in den Vordergrund stellt, mehr Ressourcen und eine besser abgestimmte Koordination der europäischen Strafverfolgungsbehörden bietet, die Opferunterstützung im Einklang mit den Grundrechten stärkt und darauf verzichtet, auf ein falsches Sicherheitsgefühl durch Technosolutionismus zu setzen.

Als nationale und europäische Parlamentarier sind wir davon überzeugt, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen mit den europäischen Grundrechten unvereinbar sind. Wir sind entschlossen, das Recht auf anonyme und pseudonyme Nutzung des Internets zu wahren sowie die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu stärken.

Wir fordern daher alle verhandelnden Regierungen im COREPER dringend auf, einen allgemeinen Ansatz auf der Grundlage des von Belgien vorgelegten Kompromissvorschlags abzulehnen.

Unterzeichner*innen

Tobias B. Bacherle, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Konstantin von Notz, MP & Vice Chair of the group, Alliance 90/The Greens, Germany

Süleyman Zorba, MP, The Greens, Austria

Maximilian Funke-Kaiser, MP, FDP, Germany

Konstantin Kuhle, MP & Vice Chair of the  group, FDP, Germany

Sven Clement, MP, Pirates, Luxembourg

Valentin Abel, MP, FDP, Germany

Sephanie Aeffner, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Alviina Alametsä, MEP, Greens/EFA, Finland

Rasmus Andresen, MEP, The Greens/EFA, Germany

Christine Aschenberg-Dugnus, MP, FDP, Germany 

Maik Außendorf, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Christian Bartelt, MP, FDP, Germany

Jens Beeck, MP, FDP, Germany

Katharina Beck, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Lukas Benner, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Michael Bloss, MEP, The Greens/EFA, Germany 

Damian Boeselager, MEP, The Greens/EFA, Germany 

Dr. Jens Brandenburg, MP, FDP, Germany

Patrick Breyer, MEP, The Greens/EFA, Germany 

Saskia Bricmont, MEP, The Greens/EFA, Belgium

Georg Bürstmayr, MP, The Greens, Austria 

Anke Domscheit-Berg, MP, Die Linke, Germany

Marcel Emmerich, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Emilia Fester, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Alexandra Geese, MEP, The Greens/EFA, Germany 

Stefan Gelbhaar, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Anikó Glogowski-Merten, MP, FDP, Germany

Andreas Glück, MEP, Renew Europe, Germany 

Marketa Gregorová, MEP, The Greens/EFA, Czech Republic

Sabine Grützmacher, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Thomas Hacker, MP, FDP, Germany

Svenja Hahn, MEP, Renew Europe, Germany 

Philipp Hartewig, MP, FDP, Germany

Katrin Helling-Plahr, MP, FDP, Germany 

Bernhard Herrmann, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Manuel Höferlin, MP, FDP, Germany

Dr. Christoph Hoffmann, MP, FDP, Germany 

Ottmar von Holtz, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Lamya Kaddor, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Misbah Khan, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Daniela Kluckert, MP, FDP, Germany 

Marcel Kolaja, MEP, The Greens/EFA, Czech Republic 

Moritz Körner, MEP, Renew Europe, Germany

Michael Kruse, MP, FDP, Germany

Wolfgang Kubicki, MP, FDP, Germany 

Katharina Kucharowits, MP, SPÖ, Austria

Renate Künast, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Ulrich Lechte, MP, FDP, Germany 

Dr. Thorsten Lieb, MP, FDP, Germany

Helge Limburg, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Denise Loop, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Oliver Luksic, MP, FDP, Germany

Kristine Lütke, MP, FDP, Germany 

Boris Mijatovic, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Maximilian Mordhorst, MP, FDP, Germany 

Hannah Neumann, MEP, The Greens/EFA, Germany 

Jan-Christoph Oetjen, MEP, Renew Europe, Germany 

Dr. Paula Piechotta, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Volker Redder, MP, FDP, Germany

Tabea Rößner, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Michael Sacher, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Kassem Taher Saleh, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Dr. Nikolaus Scherak, MP, NEOS, Austria 

Christina-Johanne Schröder, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Ria Schröder, MP, FDP, Germany

Kordula Schulz-Asche, MP, Alliance 90/The Greens, Germany 

Prof. Dr. Stephan Seiter, MP, FDP, Germany

Kim van Sparrentak, MP, The Greens/EFA, Netherlands 

Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, MP, FDP, Germany 

Jens Teutrine, MP, FDP, Germany

Stephan Thomae, MP, FDP, Germany

Johannes Vogel, MP, FDP, Germany

Robin Wagener, MP, Alliance 90/The Greens, Germany

Sandra Weeser, MP, FDP, Germany

Nicole Westig, MP, FDP, Germany

Katharina Willkomm, MP, FDP, Germany

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Kategorie

2024 | Pressemitteilung | Tobias B. Bacherle, MdB

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